Der Wind hat gedreht

Document version: 1.0; created 2005-07-01; last modified 2014-02-28.

Erstveröffentlichung:
Zeitung der FS Informatik/Uni Dortmund: The Busy Beaver Nr. 102
Erstveröffentlichungsdatum:
Juli 2005

Letztens saß ich in einer Sitzung. Es ging gerade ums Studium. Es soll Studis geben, die Lernen tatsächlich als Bürde empfänden. Wozu ist das hier denn eine Uni? Hier soll doch eigenständiges Lernen aus Selbstmotivation die Regel sein!

Eigenständiges Lernen? Selbstmotivation? Kannze knicken. Wozu denn? Die Realität hat die alten Vorstellungen zur Bildungsgestaltung an einer Universität aus der Zeit eines Wilhelm von Humboldt längst überholt.

Damals[tm] war ja alles besser. Ein Studi hatte noch den Willen, etwas zu lernen. Das bedeutete vor allem, dass er nicht nur das lernte, was ihm vorgesetzt wurde, sondern auch, was er zu dem Thema alles noch so fand. Wenn ein Studi sich also mit einem Thema befasste, so hat er auf eigenständige Art und Weise nach mehr Wissen gedürstet und mit etwas Suchen vielleicht auch mehr gefunden. Fand er nicht mehr, konsultierte er seinen Prof oder fing an zu forschen. Ein Professor war auch eher jemand, der den Pfad des Lernens für seine Studenten wies -- anstelle wie heutzutage oft den Studis den Stoff vorkauen muss. Da damals (ich rede immer noch von der Zeit Wilhelm von Humboldts) nur Männ^WSöhne reicher Eltern an der Uni zugelassen waren, habe ich hier jetzt auf Geschlechterneutralität verzichtet.

Heute scheinen die Studis nur noch auf genau ein Ziel aus zu sein: Mit möglichst wenig Aufwand möglichst gute Noten zu kriegen. Man könnte auch sagen: Es geht nicht darum, etwas zu lernen, sondern etwas zu können. Und der Weg zum Können soll so kurz wie möglich sein. Zu der Studienzeit unserer Profs war es vielleicht auch noch normal, mal rechts und links und über den Tellerrand der eigenen Prüfungsordnung zu schauen. Damals hat man sich auch noch kaum Gedanken darüber gemacht, ob ein oder zwei Semester Auslandsaufenthalt anrechnungsfähige Leistungen mit sich bringen.

Von den Studis, die sich durch die eigenen Lernprozessen unter Leitung der Professorenschaft von verschiedenen sanften Winden mal in die eine, mal in die andere Richtung leiten ließen oder auch mal ein wenig gegen den Wind ankämpften, sind nicht mehr viele übrig geblieben. Wie auch? Inzwischen weht der Wind kräftig von allen Seiten, nur nicht von hinten. Um also einigermassen effizient durch das Studium zu kommen -- also bevor die Gebührenfalle zuschlägt -- muss der heutige Studi die Augen zumachen und geradlinig gegen den Wind ankämpfen. Das ursprüngliche Ziel wird dann gern mal vergessen.

Wen wundert es da, dass in einer von der Wirtschaft dominierten Gesellschaft, die nur noch auf Quantitäten achtet, ein Studi nur noch quantifizierbare Ziele hat? In diesem Fall wäre das also ein Abschluss mit möglichst guter Note in möglichst kurzer Zeit bei möglichst wenig Aufwand. Das ist quantifizierbar, das kann man vergleichen, das wollen Wirtschaft und Politik. Na toll. Will die Wissenschaft das auch?

Vom Prinzip her will die Wissenschaft das nicht. Wissenschaft ist unter anderem erfunden worden, um die Menschheit weiter zu bringen, um über das Bekannte hinaus zu denken. Existiert eine Universität nicht, um neues Wissen zu entdecken und uneigennützig an die Welt weiterzugeben? Sollte ein Studi, aus dem ja eigentlich ein Wissenschaftler werden sollte, nicht einen forschenden Geist entwickeln und mitdenken, hinterfragen, einen Dialog mit anderen Studis und Professoren entwickeln und nicht nur sein eigenes, sondern auch das Wissen der Menschheit erweitern statt sich nur das Nötigste für die nächste Klausur einzutrichtern?

Ich dachte eigentlich schon, aber ich bin ja auch Idealist. Es gibt noch Professoren und Studis, die nach diesen alten Werten denken, forschen und lehren bzw. studieren -- der eine bewusst, die meisten unbewusst. Das unterstelle ich jetzt einfach mal so. Ich selbst hänge auch eher unbewusst an den alten Werten -- lerne, forsche und lehre, damit die Menschheit weiter kommt. Ich sehe den primären Sinn nicht darin, selbst viel Geld zu haben. Aber ich bin ja auch Idealist. Sagte ich das schon mal? Tschuldigung.

Aus Politik und Wirtschaft weht ein Lüftchen gegen diese alten Werte, wie es schlimmer nicht sein kann. Wenn man keine Ahnung hat, aber trotzdem eine Entscheidung treffen soll, braucht man Zahlen -- und die Information, welche Zahl nun die wichtigste ist. Also muss quantifiziert werden. Am universellsten ist die Methode, alles in Geld umzurechnen. Menschen sollen in der Uni zu Lehr- bzw. Lernmaschinen werden. Um später in der Wirtschaft zu Produktionsmaschinen zu werden. Maschinen sind ja so wunderbar berechenbar. Mensch sein? Humanität ist nicht monetär quantifizierbar. Weg damit!

Warum passen wir nicht die Gesellschaft an, dass sie mit den Werten und Zielen der Wissenschaft klar kommt? Klingt gut, ist aber unrealistisch. Die Gesellschaft ist fest in der Hand von Wirtschaft und Politik. Ansonsten müssten wir jetzt nicht den Bachelor und Master einführen -- Wissenschaftler finden die Idee der globalen Vergleichbarkeit (schon wieder so was Quantifizierbares) dahinter ja vielleicht noch ganz nett, aber in der derzeitigen Ausführung ist es ja nicht so wirklich vereinbar mit den Zielen der Wissenschaft.

Bisher war eins der Ziele, Studis auf eine wissenschaftliche Laufbahn vorzubereiten. Es mag uns nicht klar sein, dass ein Universitätsstudium auf wissenschaftliche Arbeit abzielt -- aber das ist so sehr verankert, dass es sogar im Paragraphen 1 der Diplomprüfungsordnung Informatik drin steht. Mehr oder weniger als Nebenprodukt gingen auch immer mehr Diplomanden in die Wirtschaft, während die Anzahl der Wissenschaftler auf einer Universitätslaufbahn wesentlich langsamer wuchs. Im Ergebnis ist die Universität zum Massenmarkt geworden, wo ein Professor nicht mehr auf all seine Studis persönlich eingehen kann.

Was sollte eigentlich das Nebenprodukt der Universität sein? Leute, die in die Wirtschaft gehen und produzieren oder Leute, die als Wissenschaftler an der Universität bleiben und forschen?

Mit dem Wechsel auf Bachelor und Master wird das Haupt- und Massenprodukt einer Universität ein auf die Wirtschaft zugeschnittener Absolvent sein. Das Nebenprodukt ist dann der Teil der Masterstudis, der tatsächlich eine wissenschaftliche Laufbahn einschlägt.

Nun, die Uni wird grade an die Gesellschaft angepasst. Das ist aber noch nicht bei allen angekommen. So findet die Lehre oft noch nach den alten Grundsätzen statt -- leite den Studi in seinem selbstmotivierten Lernprozess -- aber die Ziele, wie der Studi sie durch Wirtschaft, Politik und Medien indirekt, aber konstant und ohne viel Gegendarstellung indoktriniert bekommt, erfordern andere Methoden. Naheliegend für die von der Wirtschaft lobbyierte Politik wäre eine verschulte Universität, wo die Professorenschaft für die anonyme Masse zur Lehrerschaft wird und vielleicht ein ausgewähltes Häufchen zur nächsten Wissenschaftsgeneration leitet.

Wollen wir das? Ich will es nicht -- aber es sieht aus, als bliebe mir keine andere Wahl, als mit dem Strom zu schwimmen.

Ich verstehe nicht, warum es so gekommen ist. Eigentlich gibt es bereits seit langem genau auf die unterschiedlichen Ziele zugeschnittene Einrichtungen -- es ist fast schon eine Zuständigkeitsunterteilung. Universitäten bilden wissenschaftlichen Nachwuchs aus, Fachhochschulen bereiten auf eine Laufbahn in der Wirtschaft vor. Das hat das Kollektivgedächtnis der Gesellschaft wohl vergessen...

Einer der wichtigsten Exportartikel Deutschlands ist Know-How. Und eben dieses wird in letzter Zeit untergraben, weil der Wert der heutigen Forschung erst in der überübernächsten Wahlperiode bemerkbar sein könnte -- und niemals im vorhinein quantifizierbar sein wird.